Die Bäume haben ihren Färbeprozess längst abgeschlossen und entledigen sich ihrer Blätter. Die Sommerzeit wurde abgelöst, der Abend beginnt hier schon in den Nachmittagsstunden. Klimaveränderungen gibt es auch in Indonesien. Heftige Regenstürme bestimmen nun den Alltag der javanischen Bevölkerung. Der ewige javanische Sommer weicht einer feuchten und gefährlichen Phase. Bis wenige Tage vor meinem Aufbruch brauchten sich die Javaner und Touristen nicht vor Malaria zu fürchten, jetzt besteht erneut Gefahr, von Mücken angesteckt zu werden. Hier schützt man sich vor Erkältungskrankheiten, Grippen oder Blasenentzündung.
Noch immer fallen mir konkrete Unterschiede zwischen den javanisch-indonesischen und den deutschen bzw. europäischen Denk- und Handelsweisen auf. Noch immer versuche ich sie zu vergleichen und auf bestimmte historische Entwicklungen zurückzuführen. Alle Kulturen sind im Kontext ihrer Historizität zu verstehen, und das gilt auch für Phänomene der Moderne, welche sowohl in europäischen Landschaften als auch in der javanischen Gesellschaft anzutreffen sind. CouchSurfing, das weltweite Online Hospitality Netzwerk, mit dem ich mich im Rahmen einer empirischen Studie seit Mai 2008 beschäftige, hat auch in den urbanen Zentren Javas Anhänger gefunden. Internationale Touristen besuchen während ihrer Reisen lokale Studierende in Yogyakarta oder Semarang. Als ich am Abend meiner Anreise in den Bus von Flughafen Jakarta bis Blok M stieg, wusste ich bereits, dass ich an der Endstation von Fajar abgeholt würde. Dieser junge Mann war von der Idee begeistert, einen jungen Europäer in seiner Heimatstadt beherbergen zu dürfen. Und kurz vor Ende meines Aufenthalts lud er mich erneut nach Jakarta ein, um mit ihm das islamische Idul Fitri (Zuckerfest) zu zelebrieren.
Im Laufe meiner Sprachstudien in Surakarta und während der anschließenden Kurzreise durch Central Java lernte ich zahlreiche indonesische (und malaysische) CouchSurfer kennen, im Rahmen von Besuchen und gemeinsamen Reisen. Eny, eine erfolgreiche Selbstständige in der Möbelbranche, organisierte für zwei russische Reisende und mich einen Wochenend-Trip zu den vom Pauschaltourismus verschonten Karimun Jawa Inseln. Um am Abreisetag früh aufbrechen zu können, reiste ich schon am Vorabend an und verbrachte eine Nacht in ihrem eigenen Haus in Jepara. Vor wenigen Tagen fand das Great Karimun Jawa Gatherin statt, Eny war als Veranstalterin maßgeblich beteiligt und sie hat die gigantische Ansammlung von fremden sowie lokalen CouchSurfern sicher sehr genossen.
Als letzte Begegnung mit CS-Mitgliedern ist das Treffen mit Swastika in Solo zu nennen. Hier fand kein Surfing im traditionellen Sinne statt, sondern wir trafen uns nur, um einen Kaffee zu trinken. Ihr Besuch galt auch einigen Freunden, die in Solo lebten. Nichtsdestotrotz spielte unsere Mitgliedschaft eine gewisse Rolle bei unserem Treffen. Darauf möchte ich später noch eingehen.
Bei einem oberflächlichen Vergleich der CouchSurfing-Welten Europa und Indonesien fallen zwei Dinge auf: Die Gruppe Indonesia zählt zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes 2.074 Mitglieder. Die Gruppe mit dem Namen Germany zählt knapp 26.000 Mitglieder. Europa, mit seinen diffusen und unübersichtlichen Formationen und Gesellschaftshybriden, wird von über 700 Millionen Menschen bewohnt. Die Population von Indonesien erreicht ein gutes Drittel dieser Größe. Wenn man nun anerkennt, dass Europa stärker vernetzt ist als das indonesische Archipel, dann wird verständlich, warum eine Gruppe wie Germany so viel mehr Mitglieder hat als die gesamte CS-Community in Indonesien. Nehmen wir also den Vergleich der absoluten Mitgliederzahlen hinzu, der mehr Aufschluss über den Bekanntheitsgrad von CouchSurfing in beiden Gesellschaften gibt: Rund 2.200 Menschen mit angegebenem Wohnsitz in Indonesien sind bei CS registriert. Deutschland liegt mit knapp 75.000 Mitgliedern auf Platz zwei der Nationenrangliste.
Eine Vielzahl von Faktoren kann das Gefälle des Bekanntheitsgrades und der Nutzungshäufigkeit erklären, z.B. könnte die ungleich starke Verbreitung neuer Technologien in den Regionen einen Grund darstellen. Genaue Informationen über den Zugang zu Internet-Technologie stehen mir derzeit nicht zur Verfügung. Als Indiz kann jedoch meines Erachtens auch die Analphabetenrate herangezogen werden: In Indonesien liegt sie noch bei 10 Prozent (mit steigender Tendenz)[1], wie in den meisten Industrienationen „geht in Deutschland der Alphabetisierungsgrad (…) gegen 100 Prozent.“[2] Deutlich wird, dass prozentual mehr Indonesiern der Zugang zum Medium Internet strukturell verwährt bleibt.
Diese reellen Fakten dürfen nicht den kulturellen Implikationen übergeordnet werden, so gibt es zwischen den javanischen und europäisch-modernen Kulturen trotz anhaltender Globalisierungstendenzen signifikante Unterschiede. Um mit Dumont zu sprechen, basiert das europäische Wertesystem einer der Aufklärung geschuldeten Trennung zwischen Sein und Sollen, gemeint sind wissenschaftliche Wahrheit und Moral – vorzufinden sei diese Trennung in „modernen“ Gesellschaften. Die kleinste Einheit im Wertesystem sei das Individuum, das Ideen und Werte miteinander verbinde.[3] Der modernen Denktradition gegenüber stünden die Nicht-Modernen, deren Werturteile einer gesellschaftlich holistischen Denkweise verpflichtet seien. Ich spreche hier eigentlich von der Unvereinbarkeit von Individualismus und Soziozentrismus. Diese philosophischen, aber doch realen Handlungsmodelle erklären erstens den oben genannten Mengenunterschied und bestimmen zweitens den Unterschied zwischen den beobachtbaren CouchSurfing-Praxen.
Insofern ich diese These auf die Deutungsversuche des Verhaltens der CouchSurfer in Indonesien übertrage, können Unterschiede direkt auf den kulturellen Kontext der Mitglieder zurückgeführt werden, nur leider konnte ich den nie eingehend empirisch erfassen. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass das CouchSurfing vielmehr als ein interkultureller Raum zu begreifen ist, in welchem sich Akteure und ihre Wertesysteme und Ansichten vermischen. Also genau der Vorstellung von Appadurai folgend konstituieren sie eine Art ethnoscape. Die Konsequenz der Vermischung von kulturellen Handlungsschemata und Ideen sind neue Felder und Welten der Imagination. Inzwischen ist unbestritten, dass Menschen, die durch die Globalisierung Neues erfahren und mitunter aufnehmen oder z.B. in fremden sozialen Kontexten leben, nie völlig assimiliert oder von den neuen kulturellen Strömen durchtränkt werden. Ihre Überzeugungen werden nicht ausgelöscht oder völlig untergeordnet, sondern eventuell erweitert oder modifiziert.
Eingedenk dieser theoretischen Vorschläge möchte ich in meinem kommenden Beitrag auf einige Phänomene der CS-Community Indonesien eingehen und an speziellen Beispielen zeigen, wann mir der Unterschied zwischen indonesischen und europäischen CouchSurfern bewusst wurde.
[1] Vgl. http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/Indonesien/Kultur-UndBildungspolitik.html
[3] Dumont schließt eine Sozialethik, d.h. einen gemeinschaftlichen und/oder gesellschaftlichen Wertkanon, nicht aus.